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©️ Rolf Hiller
Kein Kunde nirgends mehr.
Am liebsten bin ich mit dem Fahrrad unterwegs; ich sehe mehr und kann meine Route beliebig ändern. Nach Durchquerung des herrlichen Berliner Tiergartens ist meine erste Station die Friedrichstraße, die ihre beste Zeit vor 100 Jahren hatte und nach der Wende maßlos überschätzt wurde: sie war und wird nie ein großzügiger Boulevard wie die Champs Élyssée oder der Ku’damm. Trotzdem setzte das Management der französischen Kette Galeries Lafayette auf diesen Standort. Anfangs brummte es in diesem Konsumtempel, und die Berliner:innen standen sich die Beine in den Bauch, um ein bisschen Savoir Vivre zu erleben und echten französischen Fromage zu kaufen. Das ist lange her und Ende Juli gehen die Lichter aus. Wenigstens einmal will ich die Galeries Lafayette Berlin noch sehen – und bin enttäuscht. Wenige Kund:innen kommen an diesem strahlenden Nachmittag zum Shoppen, die legendäre Käsetheke ist auf Supermarkt-Niveau einer Kleinstadt geschrumpft. Das Ende der Galeries Lafayette Berlin signalisiert das Ende der Kauhäuser: dieses Geschäftsmodell ist gegen den Online-Handel chancenlos.
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©️ Rolf Hiller
Leere Stuhlreihen als Mahnmal auf dem "Platz der Hamas-Geiseln".
Auf der (engen) Friedrichstraße geht’s weiter zu einer Prachtstraße vergangener Zeiten, die jedes Flair verloren hat: Unter den Linden. Mein Ziel ist der Bebelplatz, eine abweisende Steinwüste ohne Struktur, konzipiert von sogenannten Stadtplanern, ohne auch nur im Geringsten an die Menschen und ihre Bedürfnisse zu denken. Auf dem damaligen Opernplatz verbrannte am 10. Mai 1933 der nazistische Pöbel Tausende von Büchern; daran erinnert das eindrucksvolle Denkmal des israelischen Künstlers Micha Ullmann. Durch eine gläserne Bodenplatte sieht man leere, weiße Bücherregale. Mit Bedacht wurde dieser Ort von Aktivisten gewählt, um auf das weiter ungewisse Schicksal der Geiseln im Gazastreifen hinzuweisen. Bis zum 4. Juni heißt dieser Ort nun “Platz der Hamas-Geiseln". Ich gehe durch die leeren Stuhlreihen und schaue mir die Porträts der Entführten an. Es hätte jede und jeden treffen können. Ihr Leben ist zum Faustpfand zynischer Machtinteressen geworden. Ihr Schicksal bleibt weiter ungewiss.
Ein Radfahrer mit Kind droht den Aktivisten lautstark mit einer Anzeige. Touristen lassen ihre Liege-Rikschas anhalten und schauen weg. Die Sanduhr der Geiseln läuft weiter, man kann durch einen Terrortunnel gehen, der zumindest eine Ahnung für die Lage der Gefangenen vermittelt. Nachdenklich radele ich Unter den (öden) Linden Richtung Brandenburger Tor, vor dem nun für die EURO 2024 Kunstrasen liegt. Auf der Rückfahrt halte ich an der Philharmonie und gehe wie schon so oft durch die riesigen, gewellten Eisenplatten von Richard Serra, die für einen Moment ein Gefühl der Beklemmung vermitteln. Am 23. Mai wurde das 75. Jubiläum des deutschen Grundgesetzes feierlich begangen. Artikel 1 beginnt mit den Worten: “Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.” Dieses Recht gibt es für viele Menschen auf der Welt nicht. Für diese Verfassung, die gar keine ist, gilt es einzustehen - gegen Anfeindungen jedweder Art.
Erk Walter
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