© Karl Grünkopf
Morgens scheint die Welt noch in Ordnung: Blick vom Hotel Hasenjäger auf das idyllische Städtchen Einbeck.
Das Wetter hätte besser nicht sein können für unser Familientreffen in Einbeck, einer Gemeinde mit 30.000 Einwohnern in Südniedersachsen, die im geteilten Deutschland zum Zonenrandgebiet gehörte. Nach Tagen schwüler Hitze sind die Temperaturen angenehm. Wir schlendern nach dem Frühstück gemütlich in die Stadt, gehen den Mägdebrink hinunter, in dem die Großmutter fast ihr ganzes Leben lang gewohnt hat. Wie oft haben wir sie in all den Jahren besucht. Die Erinnerungen der Reisen verschwimmen; es gibt Erlebnisse, die ich nicht mehr fassen kann und die ich gleichwohl nie vergesse werde. Mit 3 Jahren zog ich mir die Kartoffeltasche über den Kopf und stürzte in den Keller hinab. Zum Glück kam ich mit einem Schrecken davon. Heute verhindert ein Zaun solche Dummheiten. Heute kommen mir die gut anderthalb Meter runter in den Keller nicht mehr so hoch vor. Die Perspektiven verschieben sich wie die Erinnerungen. Alles ist kleiner geworden. Natürlich erzähle ich von der Rußschlacht auf dem Kompost mit meinem Kinderfreund. Schwarz wie Kumpels nach der Schicht sollen wir vor den Müttern gestanden haben. Natürlich war damals keine Kamera zur Hand.
Das ist heute anders. Fast alle haben wir ein Smartphone dabei, checken alle paar Minuten unsere diversen Channels oder machen schnell mal ein Foto. Ich habe tausende Bilder auf meinem Handy, die ich mit einer Kamera nie gemacht hätte. Natürlich knipse ich das Uhrwerk in der Münsterkirche, in der ich einst getauft wurde, und halte noch schnell ein treffendes Gedicht von Andreas Gryphius fest. Danach muss es passiert sein! Kurze Zeit später stehen wir im Lottogeschäft entfernter Verwandter. Ich spiele nie, aber dieses Mal setze ich auf die Zahlen 1, 2, 3, 4, 5, 6. Ich krame in meinem Beutel nach dem Handy. Es ist nicht da. Noch einmal alles durchwühlen. Das Ding ist weg. Was tun? Ruhe bewahren und auf einen Digital Native hoffen. Erst einmal rennen wir zurück zur Münsterkirche, dann sagt mein Sohn, I-Phones könne man doch orten. Er aktiviert diese Funktion auf seinem Gerät. Nun fehlt noch die Zwei-Faktor-Authentifizierung. Wir rasen mit einem Taxi ins Hotel und geben den Code durch.
Der Sohn ortet das Handy rasch in einem Mehrfamilienhaus mit 12 Parteien. In der heißen Mittagssonne warten wir auf die Polizei; der Western "Zwölf Uhr mittags" geht mir durch den Kopf. Derweil verfolgt die Familie das Geschehen online über unsere WhatsApp-Gruppe mit munteren Sprüchen: "Fangt den Dieb", "Tatort live". Nach gut einer Stunde kommen die Retter. Dann geht alles ganz schnell. Das Team klingelt bei irgend jemandem, die Haustür geht auf, gleichzeitig löst der Sohn auf meinem Handy einen Alarmton aus. Wir bleiben draußen, ich höre eine männliche Stimme: "Ich habe heute ein Handy gefunden." Später hätte er es abgeben wollen. Warum hat er nicht gleich den Verlust bei der Polizei gemeldet? Warum hat er nicht abgenommen? Immerhin hatte der Sohn achtmal angerufen. Wir lassen die Unschuldsvermutung gelten, treffen rechtzeitig zur Stadtführung auf dem wunderschönen Marktplatz ein und machen später noch das Einbecker Bierdiplom. Keine Ahnung, wie oft ich in meinem Leben in meiner Geburtsstadt gewesen bin. Dieses gelungene Familientreffen in Einbeck werde ich niemals vergessen. Ende gut, alles gut.
Erk Walter
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