© Sister V.
„Das Vergangene findet jetzt statt.“ (Elfriede Jelinek)
Bei der Familien-Begegnung im letzten August hatten wir gleich das nächste Treffen diesmal in Wiesbaden verabredet. Damals war unsere Kommissarin noch nicht dabei, aber wir konnten das „verschwundene“ Handy auch ohne sie ausmachen. Mein Sohn ortete das I-Phone in einem Mehrfamilienhaus und löste den Alarmton aus, als das Polizeiteam eingetroffen war. Dieses Mal sind wir fünfzehn Personen, für ein Wochenende eine Art Familie, was einer strengen Überprüfung nicht ganz standhält. Am ersten Abend müssen sich einige erst einmal kennenlernen. Tags darauf führt uns unser Familienoberhaupt durch die Sektkellerei Henkell; es ist in jedem Moment zu spüren, dass er diesen Job ein paar Jahre lang mit Leib & Seele gemacht hat. Dann geht‘s mit der S-Bahn weiter nach Mainz, noch immer der Ort, an dem ich die längste Zeit meines Lebens verbracht habe, die „formativen Jahre“, wie es ein Lebensfreund nennt. Es passt zu diesem Tag, dass mich nachmittags eine Mail des OK „50 Jahre Abi 2024“ erreicht.
Am Fort Elisabeth hat die Familie 15 Jahre gewohnt, wir schreiten die alten Wege ab - alles ist viel kleiner geworden. Im Park vor dem Vincenz-Krankenhaus spielten samstags am Nachmittag Dutzende Jungs Fußball; heute ist der Platz verwaist. Kein Kicker nirgends mehr. Weiter zum Plantschbecken, von uns Plantschert genannt, wo es einst ein Café und eine Toilettenhäuschen gab. Alles dicht. Mit einer Bank als Tor haben wir früher stundenlang mit einem Tennisball gekickt. Davon hatte ich den Söhnen oft erzählt, und in einer Tierhandlung haben sie am Vormittag einen „Balle“ besorgt. Los geht das Spiel. Mit Begeisterung spielen wir vier gegen vier. Schneller als erwartet, ist die ‚Pille‘ hin. Wir müssen abbrechen und trennen uns unentschieden. In meinem Team macht die Kommissarin ein gutes Spiel. Niemand ahnte zu diesem Zeitpunkt, dass sie ein paar Tage später beim erfolgreichen Einsatz gegen die Ndrangheta - diese Mafia-Organisation macht jährlich 50 Milliarden Euro Umsatz (!) - dabei ist; und mit der haben wir im Plantschert gekickt! Wir sind alle schwer beeindruckt.
Wir laufen um unser Haus, den „Sternbau“, herum. Im ersten Stock haben wir teilweise zu sechst in knapp 70 Quadratmetern gelebt. Wir können es nicht fassen, und doch war dieses Leben in der 3-Zimmer-Wohnung für uns normal. Geduldig lauscht der Rest der Familie unseren Erinnerungen. Weiter geht‘s über die Stephanskirche mit den berühmten Chagall-Fenstern runter in die Stadt. Wir schlendern über die Ludwigstraße und am Dom vorbei zum Rhein. Zum krönenden Abschluss eines langen Tages voller Eindrücke und Erinnerungen kehren wir in ein uriges Restaurant ein, das im Netz mehr verspricht, als es in der Realität halten kann. Den vom Kellner empfohlenen Riesling gibt es nicht gekühlt, die Essen werden im Abstand von anderthalb Stunden serviert. Zumindest an diesem Abend hatte das Team der „Gaststätte Rote Kopf“ einen rabenschwarzen Tag. Ein Nachlass und ein Absacker aufs Haus waren ein schwacher Trost. Dass der Kellner zum schlechten Schluss noch ein Glas zerdepperte, passte ins Bild. Narhallamarsch.
Erk Walter
Weitere Beiträge wahnundwerk.blog