© Rolf Hiller
Falls die digitale Welt zusammenbricht, ist auf das gute, alte Kofferradio Verlass . ©
Kaum habe ich den ICE betreten, beginnt der Alarm. Die Handys geben einen lauten & unüberhörbaren Ton ab. Alle wissen Bescheid. Heute ist der bundesweite Warntag. Das hat fast überall geklappt, nur in der Bundeshauptstadt heulen die Sirenen nicht – von geplanten 400 sind nicht einmal 25% einsatzbereit. Wenn es wirklich ernst würde, dürften die meisten so wenig Bescheid wissen wie ich. Soll man Schutzräume aufsuchen? Wo sind die? Soll man die wichtigsten Papiere mitnehmen? Gäbe es dort zumindest Wasser? Im Rundfunk bekomme ich einen ganz wichtigen Tipp: unbedingt immer ein Kofferradio bereit halten - und ausreichend Batterien. Im Ernstfall könnte schnell das Internet zusammenbrechen mit unabsehbaren Folgen – auch für die Information der Bevölkerung. Das ist die Kehrseite der Digitalisierung, die kaum jemand auf dem Schirm hat. Wider jede Vernunft rechnen wir nicht damit, dass eine Katastrophe auch uns betreffen kann.
Nach dem Ende des enervierenden Alarms erst bemerke ich einen Klassenfreund im gleichen Wagen. Nächstes Jahr liegt unser Abi 50 Jahre zurück, und wir wollen uns natürlich treffen. Einige werden ganz bestimmt nicht kommen – sie wollen durch nichts & niemanden mehr an ihre Schulzeit erinnert werden. “Feuerzangenbowle”-Idylle war selten, körperliche Übergriffe auf dem Jungengymnasium nicht ungewöhnlich. Der Freund erzählt mir, dass ein Lehrer mit Nazihaarschnitt und einer passenden Vita einmal im Religionsunterricht einen Schüler so lange mit der Bibel(!) auf den Kopf schlug, bis diesem schlecht wurde. So etwas ist mir nicht widerfahren, aber im Schullandheim wurde ich einmal auf andere Weise gedemütigt. Weil ich den Milchreis mit Zimt und Zucker nicht herunterbringen konnte, musste ich nach dem Essen sitzen bleiben. Unser Klassenlehrer verlangte, dass ich den üblen Brei esse, Löffel für Löffel. Ich würgte bei jedem Bissen, mir standen Tränen in den Augen. Nach einer Stunde hatte mein Peiniger ein Einsehen und ließ von mir ab.
Warum habe ich mich nicht gewehrt? Warum habe ich die Eltern nicht informiert? Warum ist nichts passiert? Erniedrigungen waren im Mainzer Gutenberg Gymnasium zumindest bis zur Oberstufe eine allherrschende Erfahrung. In unserer Klasse stärkte der Druck von außen immerhin den Zusammenhalt – bis heute. Das war zumindest die These des leider schon verstorbenen Klassenfreundes, mit dem ich das Treffen zum 40. Abi organisierte, übrigens noch einmal in diesem Schullandheim. Am Ort meiner Demütigung überwogen damals die sentimentalen Erinnerungen, die es ja durchaus gibt. Wir lachten viel und haben es ja irgendwie überstanden. Dass einige aus unserer Abiturklasse nichts mehr mit ihrer Schulzeit zu tun haben möchten und nicht mehr zu Treffen kommen, kann ich gut verstehen. Die Vergangenheit vergeht trotzdem nicht. Was uns auf der Schule widerfuhr, ist heute unvorstellbar. Immerhin ein schwacher Trost.
Erk Walter
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