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Der Gamer, gespielt von Julius Gause, in Tom Tykwers Film "Das Licht", mit der die 75. Berlinale eröffnet wurde.
Wieder ein Anschlag in Deutschland. Ein 24-jähriger Asylant mit Aufenthaltsrecht ist in München in eine Demonstration der Gewerkschaft ver:di gerast und hat mindestens 28 Menschen zum Teil lebensgefährlich verletzt. Fassungslosigkeit, Entsetzen, Trauer und dann die gewohnten Reaktionen der politischen Parteien. Nach diesem Anschlag verfestigt sich weiter ein Gefühl der Unsicherheit – es kann jeden und jede treffen, eine absolute Sicherheit ist nicht möglich. Daneben belasten die Rezession, die diversen Strukturkrisen in Deutschland und eine disruptive amerikanische Politik, die auf ein Europa der Uneinigkeit keine Rücksicht mehr nimmt, die Deutschen. Zur gedämpften Stimmung trägt nicht minder bei, dass dem amtierenden Kanzler und seinem Herausforderer zündende Ideen fehlen – das Aussetzen der Schuldenbremse fordert der eine, mehr Wachstum der andere. Nicht bloß das Handelsblatt ist nach dem ersten TV-Duell ernüchtert. „Was fehlt, ist der Blick nach vorn. Warum Merz und Scholz nicht von sich aus über Bildung, Innovation, Künstliche Intelligenz und Forschung sprachen, bleibt ein Rätsel. Ein Kanzler sollte eine Vision für das Land entwickeln und die geopolitischen Entwicklungen in den Blick nehmen. Unsere Autoindustrie sucht Wege aus der Krise, und andere verdienen bald viel Geld mit Biotechnologie, Robotik oder Quantencomputern. So kann es nicht weitergehen. Doch während US-Präsident Trump voll auf KI setzt, ist sie Merz und Scholz in einer so wichtigen Debatte kein Wort wert.“ (11.02.25)
Der Eröffnungsfilm der 75. Berlinale schildert die Situation einer etablierten, linksalternativen Berliner Familie, deren Situation zusehends außer Kontrolle gerät. Tom Tykwer will viel, allzu viel erzählen in “Das Licht”, seinem ersten Kinofilm nach neun Jahren. Die Ehe der Eltern (sie Leiterin von Entwicklungshilfeprojekten in Afrika, er Kommunikationsberater bei einem Thinktank), gespielt von Nicolette Krebitz und Lars Eidinger, ist seit der traumatischen Geburt der Zwillinge in einer Dauerkrise – man lebt nebeneinander her. Die Tochter ist Aktivistin, meist auf Droge, erlebt eine Abtreibung und findet dann eine lesbische Freundin, ihr Bruder, ein Gamer, lebt in seinen Spielwelten. Es regnet die ganz Zeit. Gegen Ende verlieren beide Eltern ihren Job und stehen vor dem Nichts. Zum Glück hat bei ihnen eine syrische Haushaltshilfe angeheuert. Die studierte Psychologin arbeitet mit einer Lampe, die neuronale Zonen im Rückenmark aktiviert, wie bei der Geburt und beim Tod. Die Therapie scheint zu gelingen; und gleichzeitig werden noch traumatische Fluchterlebnisse auf einem Schiff im Mittelmeer bewältigt.
Ins Konzept der Amerikanerin Tricia Tuttle, der neuen Chefin der Berlinale, passt “Das Licht” perfekt. “In diesem Jahr ist auffällig”, konstatiert sie im Interview mit dem Tagesspiegel, “dass viele Filme von Menschen handeln, die mit der Komplexität der Gegenwart hadern und vor der Herausforderung stehen, durch das Leben zu navigieren und dabei ihre seelische Gesundheit zu bewahren.” (04.02.25) Mit einem Berlin-Film zur Eröffnung geht sie jedenfalls kein Risiko ein. Der Verzicht auf die parallel zum Wettbewerb laufende Reihe “Encounters” ist ebenso sinnvoll wie eine neue Spielstätte am Potsdamer Platz im Blue Man Theatre. Horst E. Wegener befindet: “Kein leichter Start für Tricia Tuttle: Nicht nur, dass gleich ihre erste Ausgabe als neue Berlinale-Chefin ein Jubiläums-Jahrgang sein wird, der zudem ausgerechnet in der heißen Phase des bundesdeutschen Polit-Wahlkampfs stattfindet, auch gilt es nach einer die Abschlussgala der Vorjahres-Berlinale überschattenden Israelhass-Debatte, umsichtig und rhetorisch gewappneter denn je zu sein.” (FRIZZ Das Magazin für Frankfurt & Vordertaunus 02/25). Bleibt zu wünschen, dass Tricia Tuttle ihre erste Berlinale ohne Stroboskoplicht übersteht.
Erk Walter
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