
© Gitti Grünkopf
Rückbesinnung ist wichtiger denn je.
Noch vor sechs Uhr morgens höre ich das Geräusch eines Flugzeugs über Hiddensee. Das kommt auf der Insel höchst selten vor und gemahnt um so mehr an den Krieg in der Ukraine. Bis nach Kiew, wo es in der Nacht wieder heftige russische Bomben- und Drohnenangriffe gab, sind es ungefähr 1.550 km – Rom ist weiter entfernt. In der Idylle vergessen wir schnell, welche Gefahren auf dem Grund der Ostsee lauern. Dort lagern der KI zu Folge nach aktuellen Schätzungen etwa 300.000 Tonnen konventionelle Munition (wie Bomben, Minen und Granaten) sowie zusätzlich bis zu 5.000 Tonnen chemische Kampfstoffe. Diese Altlasten stammen überwiegend aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg und wurden nach Kriegsende gezielt im Meer versenkt. Am 6. Juni 1944 begann die Landung der Alliierten in der Normandie; der D-Day läutete das Ende der Nazidiktatur in Deutschland ein.
Heute vor 150 Jahren wurde Thomas Mann geboren, ein konservativer Schriftsteller aus großbürgerlichen Verhältnissen, der sich schon 1930 (“Deutsche Ansprache. Ein Appell an die Vernunft”) gegen den Nationalsozialismus positionierte und dann erst in die Schweiz und später in die Vereinigten Staaten emigrierte. Davon war er 1924 noch weit entfernt, als er Hiddensee auf Einladung Gerhart Hauptmanns besuchte; die beiden Dichterfürsten wohnten mit ihren Familien in der Pension “Haus am Meer”. Der “König von Hiddensee” (Katia Mann) ist aber unbestritten Hauptmann; und deshalb suchten sich die Manns ein anderes Sommerquartier auf der Kurischen Nehrung in Litauen. Gegen den “König”, der auf einem roten Teppich von Bord des Schiffes schritt, sich eigens Wein aus Baden-Württemberg schicken ließ und später ein Haus auf der Insel erwarb, kam Thomas Mann einfach nicht an. Er erwies Hauptmann in der Figur des wein- und schnapsseligen Mynheer Peeperkorn im “Zauberberg” eine wunderbar ironische Referenz.
Weniger als 200 km sind es von Hiddensee nach Polen, wo am 1. Juni der formal parteilose und den Rechtspopulisten nahestehende Kandidat Karol Nawrocki mit 300.000 Stimmen Vorsprung gegen Rafał Trzaskowski die Stichwahl um das Präsidentenamt gewonnen hat. Dieses Ergebnis nahmen Christoph Bartram und Berthold Franke, die beide für das Goethe-Institut in Polen gearbeitet haben, zum Anlass, eine Sonderfolge ihres Podcasts die2@die2plus.de unter dem Titel “POLEN VORHER/NACHHER” zu veröffentlichen, die ich unbedingt empfehle. Die beiden analysieren kundig die neue Lage, die Auswirkungen auf ganz Europa und Deutschland insbesondere (Reparationszahlungen) haben wird. Rückbesinnung ist in Zeiten wie diesen wichtiger denn je. In der voll besetzten Inselkirche von Kloster erlebten wir ein schönes Konzert von Gabriele Kienast (Violine) und ihrem Vater Eberhard Kienast an der Orgel. Mit einer überraschenden Zugabe entlassen sie das freudig klatschende Publikum in den milden Abend. Sie spielen “Bésame mucho” von der mexikanischen Komponistin Consuelo Velázquez; diesen Welthit komponierte sie mit neunzehn Jahren. “Küsse mich, küss’ mich ganz feste! Küss’ mich, als wär’s heute Nacht zum allerletzten Mal.” (Wikipedia) Sie selbst hatte es damals noch nicht einmal versucht.
Erk Walter
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