
© Rolf Hiller
Die Bäckerei von Andreas Kasten gibt es nicht mehr.
Von Haus zu Haus dauert die Reise auf unsere Trauminsel neun Stunden. So lange braucht man, um mit dem Zug, dem Schiff und zuletzt mit dem Handwagen das Quartier auf Hiddensee zu erreichen. Die Insel vor Stralsund ist autofrei, nur Rettungsfahrzeuge, ein Inselbus und kleine Transporter sind erlaubt. Bereits auf dem Schiff gibt es die viel ersehnte Entschleunigung. Von Stralsund bis zum Inselhafen Kloster braucht das Schiff zweieinviertel Stunden durch die Fahrrinnen im Bodden, obwohl man Hiddensee vom Festland bei gutem Wetter sehen kann. Nach der Ankunft verladen wir das Gepäck in einen Handwagen und laufen zu unserer Unterkunft. Nur der Wind und die Vögel sind zu hören – wir sind in der Abgeschiedenheit und Ruhe angekommen, nach der wir uns so lange schon gesehnt haben.
Nichts bleibt, wie es ist, auch nicht auf Hiddensee. Der Frischemarkt unweit des Hafens hat aufgegeben; die Bäckerei Andreas Kasten, eine Inselinstitution, hat geschlossen – für immer. Der Strukturwandel im Einzelhandel verschont auch Hiddensee nicht. Es werden in den nächsten Jahren weitere kleine inhabergeführte Läden schließen. Die Besitzer:innen gehen in Rente oder ihre Geschäftsidee (Postkarten, Andenken und Nippes) hat sich überholt. Längst kann man sich alles, was man braucht, bei Amazon beschaffen, etwa eine spezielle Tastatur. Die Sendung wurde allerdings nicht im Ferienquartier, sondern einfach bei der Häuserverwaltung ausgeliefert. Bei der Nachforschung löste nicht der persönliche Kundenberater von DHL das Problem: die KI klärte am Telefon den Fall. Man konnte sich freundlich mit ihr unterhalten, die künstliche Stimme klang verblüffend menschlich. Schöne, neue, digitale Welt auf einer kleinen Insel in der Ostsee, wo Google Maps jedes Haus kennt und sofort “weiß”, ob und bei wem man das Objekt zu mieten ist. Einen Weg zurück wird es nicht geben. Wer sich der Digitalisierung verschließt, bleibt auf der Strecke, nicht bloß beim Shopping.
Obwohl die Insel unter Naturschutz steht und Bauen 30% teurer ist, treiben Entwickler gewaltige Immoblienprojekte voran. Der beschaulich-einfache Yachthafen in Vitte steht für 4,7 Millionen Euro zum Verkauf, und in der Heide im Süden wird ein Fünf-Sterne-Hotel gebaut, dem Vernehmen nach ohne Restaurant. Wer soll sich da einquartieren? Einen Golfplatz wird es auf der Insel so wenig geben wie einen eigenen Bootsanleger, von mondänen Luxusgeschäften und -restaurants ganz zu schweigen. Gerüchten zufolge steht hinter dem aberwitzigen Projekt ein börsennotierter und höchst erfolgreicher Dienstleister der Unterhaltungsbranche. Geld genug ist also vorhanden. Um so verwunderlicher, dass das Fünf-Sterne-Hotel aus billigen Baustoffen entsteht. Es wäre nicht die erste Fehlspekulation auf der Insel. Wo einst der legendäre Inselblick von Franz Freitag die Gäste anzog, steht heute ein Prunkvilla mit Fachwerk-Imitat seit Jahren leer. Aktueller Kaufpreis für das Traumhaus: 3,49 Millionen Euro. Nicht alle Spekulationen gehen auf. Zum Glück!
Erk Walter
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