
Die Zahl der Obdachlosen steigt. Überall in Europa. Nur in Finnland leben immer weniger Menschen auf der Straße. Der Grund: Housing-First. Einer, der sich für diese Idee stark macht, ist Martin Huber von Volt.
Das Prinzip Housing-First. Die Menschen bekommen erst eine Wohnung, und dann kommt der Rest. In Deutschland läuft das noch anders. Und das stellt für viele Menschen ohne Obdach eine schier unüberwindbare Herausforderung dar: ohne Wohnung keine Arbeit. Ohne Arbeit keine Wohnung. Ein Teufelskreis. Das finnische Modell Housing-First funktioniert anders: Durch das Bereitstellen einer vom Staat finanzierten Wohnung erhalten obdachlose Menschen nicht nur ein Dach über dem Kopf, sondern ein selbstbestimmtes Leben in den eigenen vier Wänden mit eigenem Wohnungsschlüssel, Privatsphäre und einem unbefristeten Mietvertrag. Vor allem aber Würde, Sicherheit und eine reelle Chance, aus ihrer aktuellen Lebenssituation herauszufinden.
Das sieht auch Martin Huber so, der der jungen Partei Volt angehört, und eine Eingabe bei der Stadt Frankfurt gemacht hat, das Projekt Housing-First auch hier einzuführen. Wir haken nach:
Martin Huber
23 Jahre alt, seit 2017 Studium Politik- und Rechtswissenschaft (B.A.) an der Goethe-Universität, bei Volt seit zwei Jahren, Spitzenkandidat Kommunalwahl 2021.
Housing First. Warum liegt Ihnen das Thema so am Herzen?
Housing First stellt das Menschenrecht auf Wohnen in den Mittelpunkt. Es ist für mich sehr schwierig zu begreifen, dass wir diese Not in einer so wohlhabenden Stadt wie Frankfurt zulassen. Das Thema geht auch mit der Frage einher, in welcher Art von Gesellschaft wir leben möchten? Auf jeden Fall muss es eine sein, in der wir niemanden zurücklassen und in der es allen möglich ist, ein freies und selbstbestimmtes Leben zu führen.
Von welchen Problemen sind Obdachlose derzeit besonders betroffen? Stichwort Corona?
Zunächst einmal ist die Situation für die Menschen auf der Straße in jeder kalten Jahreszeit lebensbedrohlich. Hinzu kommt jetzt die Corona-Pandemie. Vor dem Virus können sich die obdachlosen Menschen am wenigsten schützen, außerdem gehören sie oftmals einer besonders gefährdeten Risikogruppe an. Es ist deshalb absolut richtig, dass dies zumindest bei der aktuellen Impfstrategie der Bundesregierung berücksichtigt wurde.
Wie sieht es aktuell mit Hilfen für Obdachlose in Frankfurt aus?
Die Obdachlosenhilfe verschiedener Träger arbeitet mit akuten Notmaßnahmen. Beispielsweise ist in den kalten Nächten stets der Kältebus des Vereins für soziale Heimstätten unterwegs, der unter anderem mit Schlafsäcken und warmen Getränken wichtige Hilfe leistet. Daneben wurden einige zusätzliche Notunterkünfte bzw. warme Übernachtungsmöglichkeiten eingerichtet. Klar ist aber, dass es sich hierbei immer nur um kurzfristige Lösungen handelt, die nicht einmal gänzlich ausreichen. Die Situation wiederholt sich in jedem Winter. Deshalb fordern wir eine längerfristige Strategie, die einen realistischen Weg aus der Obdachlosigkeit hinaus ebnet.

Wie viele Obdachlose gibt es in Frankfurt?
Circa 3.000 Menschen gelten als wohnungslos, kommen aber in temporären Notunterkünften oder bei Freunden unter. Schätzungsweise 200 bis 300 Menschen leben gänzlich auf der Straße. Leider wird dazu keine offizielle Statistik geführt.
Was glauben Sie im besten Fall damit zu erreichen?
Mit unserem Vorstoß, uns in der Obdachlosenhilfe an dem HousingFirst-Konzept zu orientieren, wollen wir einen Paradigmenwechsel im Umgang mit obdachlosen Menschen einleiten und den Teufelskreis der Menschen durchbrechen. Wir liefern mit den Erkenntnissen aus Finnland Argumente, die nicht weiter ignoriert werden können. Dort wird das Konzept bereits seit 2008 erfolgreich angewendet. Unser Bestreben ist es deshalb, gemäß den Zielen der Vereinten Nationen und des Europäischen Parlaments die Obdachlosigkeit bis spätestens zum Jahre 2030 zu beenden, damit jeder sein Menschenrecht auf Wohnen wahrnehmen kann.
Wie kann Housing-First in einer so teuren Stadt wie Frankfurt realisiert werden?
Frankfurt ist sehr teuer, doch die Stadt kann es sich durchaus leisten, die wenigen obdachlosen Menschen dauerhaft unterzubringen. Das Budget der Stadt Frankfurt ist ähnlich groß wie das einiger kleiner Bundesländer. Außerdem wird oft vergessen, wie viel uns die Obdachlosigkeit schon heute kostet. Sie gehört zu den teuersten fiskalischen Notlagen. Gegenüber dem bisherigen System hat Housing-First sogar einen großen Kostenvorteil, wie die Empirie aus Finnland zeigt. Denn viele externe Kosten, durch beispielsweise Notfalldienste, sind schlicht weggefallen. Ein nicht zu vernachlässigender Aspekt ist das Fehlen bezahlbaren Wohnraums. Der starke Anstieg der Zahl obdachloser Menschen hängt untrennbar mit der immer angespannteren Situation auf dem Wohnungsmarkt zusammen. Nichtsdestotrotz muss der Anspruch einer verantwortungsbewussten Gesellschaft sein, den wenigen zurückgelassenen Menschen eine Wohnung zu bieten.
Wie ist bislang die Resonanz der Stadt, bei der Sie einen Antrag gestellt haben? Wie stehen die Chancen auf Realisierung?
Bisher warten wir noch auf die Antwort der Stadt, ich fürchte, das dauert noch eine Weile. Das Problem der Obdachlosigkeit in Frankfurt scheint für die Stadtregierung ein heikles Thema zu sein. Diesen Eindruck erzeugte bei mir der Umgang mit den Ergebnissen einer zentralen Studie zu obdachlosen EU-Bürger*innen in Frankfurt. Diese Studie wollte der Magistrat nicht veröffentlichen, da die Ergebnisse einen schlechten Umgang durch die Behörden suggerieren. Die seien wohl mehr damit beschäftigt, das Problem zu verdrängen, als es zu lösen. Es wäre für die Stadt also höchste Zeit, sich endlich ernsthaft diesem Problem anzunehmen.
Warum hat sich gerade eine junge Partei wie Volt sich diesem Thema angenommen?
Als Partei und Bewegung verfolgen wir einen pragmatischen und lösungsorientierten Ansatz. Die Obdachlosigkeit ist ein Zustand, der sich auf ganz Europa erstreckt. In den letzten zehn Jahren ist die Zahl obdachloser Menschen um ganze 70% gestiegen – mit Ausnahme von Finnland, dort ist die Zahl im selben Zeitraum um ca. 40% gesunken. Wir machen uns deshalb bereits auf europäischer Ebene dafür stark, mit dem Housing-First-Konzept die Obdachlosigkeit in ganz Europa zu beenden. Gleichzeitig haben wir das Potential Europas erkannt, indem wir die erfolgreiche Best Practice aus Finnland in alle Länder und Kommunen transportieren können.
Was wünschen Sie sich von den Frankfurter:innen im Umgang mit Obdachlosen?
Ich wünsche mir von den Menschen einen empathischen Umgang mit Obdachlosigkeit. Konflikt und Verdrängung führen nicht zu einer langfristigen Verbesserung. Was wir dagegen brauchen, ist mehr Realismus und Pragmatismus. Die Gründe, warum Menschen auf der Straße leben, sind sehr individuell. Wichtiger ist nun jedoch die Frage, wie wir sie solidarisch wieder daraus befreien und in ein bürgerliches Leben reintegrieren.