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Manchmal schreibt die Wirklichkeit Geschichten, die uns ein Stück weit zu fantastisch erscheinen, als dass man ihnen trauen würde. Wer sich dennoch die Mühe macht, sie zu überprüfen, wird schnell merken, dass hier mitunter ein Märchen wahr wurde. Beispiel gefällig? Da schrieb die pensionierte Lehrerin und Hobby-Schriftstellerin Kitty O´Meara im März 2020 ein Gedicht, veröffentlichte es auf ihrem Facebook-Blog – und eröffnete damit aller Welt einen in Coronazeiten allseits ersehnten Lichtblick am pandemisch düsteren Horizont. Mit ihrem lyrischen Mutmacher „Und die Menschen blieben zu Hause“ inspirierte die US-Amerikanerin nicht nur Showbiz-Berühmtheiten, sondern lässt auch uns darüber nachdenken, was während der Pandemie und danach passieren könnte.
>> „Und die Menschen blieben zu Hause“ von Kitty O´Meara erscheint am 10.12.2020 im Berliner Goldblatt Verlag.
Im ländlich geprägten US-Bundesstaat Wisconsin sah sich die pensionierte Lehrerin und ehrenamtlich tätige Seelsorgerin im März 2020 gezwungen, den Auswirkungen von Corona zu begegnen. Beim Gassigehen mit ihren fünf Hunden kam O´Meara ein Satz in den Sinn, der sich im Verlauf von gerade mal zwanzig Minuten zu einer wortmächtigen Assoziationskette entwickelte, die schließlich als Gedicht Eingang in ihren Internet-Blog fand. Nicht dass diesem seit 2011 von der Hobby-Literatin geführten Blog „The daily round“ in der Öffentlichkeit zuvor übermäßig viel Beachtung geschenkt worden wäre – doch diesmal entwickelten sich die Dinge anders. In der nächsten Wochenendbeilage von O´Mearas Lokalzeitung wurde ihr Blog-Beitrag abgedruckt, ergänzt um den Hinweis, dass er auf einem Gedicht der Irin Kathleen O´Mara von 1869 fußen würde. Beim international verbreiteten Fernsehsender MSNBC schloss man sich dieser Eingebung ebenfalls an. Während Kitty O´Meara noch die Rechercheunlust dieser Journalisten ungläubig staunen ließ und ihr Ehemann amüsiert war, wurde der Fehler hinsichtlich der Urheberschaft von einem Faktenchecker des Internet-Portals Snopes.com korrigiert. Zu diesem Zeitpunkt war das Gedicht längst viral gegangen, wurde es viele Millionen Mal auf Facebook und Instagram geteilt. Inspirierte Kreative in aller Welt zu Liedern, Chören, Theater- und Ballettinszenierungen – und kommt jetzt im Dezember sogar auf Deutsch in Buchform inklusive Illustrationen auf den Markt. Bei Licht betrachtet gleicht diese Geschichte einem Märchen aus Hollywoods Traumfabrik: Denn wie oft dürfte es einer pensionierten und bis dahin völlig unbekannten Lehrerin widerfahren, sozusagen über Nacht in Oprah Winfreys US-Illustrierte O, The Oprah Magazine zur „Poesie-Preisträgerin der Pandemie“ ausgerufen zu werden? Bald nach Veröffentlichung von „Und die Menschen blieben zu Hause“ legten sich Showbiz-Berühmtheiten wie Kate Winslet, Deepuk Chopra oder Lindsay Lohan auf Facebook und Instagram ihrerseits ins Zeug, um die Werbetrommel für O´Mearas Gedicht zu rühren. Älteren Lesern kommt es möglicherweise wieder in den Sinn: Bücherlesen, Kunstprojekte starten und den Selbsterhaltungstrieb intensiv auskosten, all das hat einem in früheren Zeiten gutgetan – und wird in „Und die Menschen blieben zu Hause“ propagiert. Gewiss waren und sind derlei Ratschläge ein Privileg vor allem der gebildeten und wohlhabenden Gesellschaft, die es sich leisten kann, in Krisenzeiten und Isolation auf Geistesnahrung zurückzugreifen. Monate nach Beginn der Corona-Pandemie sieht es doch weitestgehend eher so aus, dass arbeitslose Kellner noch viel seltener zum Starschauspielern taugen, genauso wie aus Marketing-Experten im Homeoffice wohl kaum nobelpreisverdächtige Schriftsteller werden und Teenagern im Plattenbau keine Rap-Karriere vergönnt scheint. Gleichwohl hat Kitty O´Mearas Gedicht der Menschheit einen Ausbruch aus der Kontaktlosigkeit vorgezeichnet. Bis Corona in der Realität endlich besiegt ist, kann man sich das liebevoll illustrierte Coffeetable-Book in seiner deutschen Ausgabe besorgen, um darin zu blättern – und um über die vermeintliche Idylle, die einem da vor Augen geführt wird, nachzusinnen. Um es mit O, The Oprah Magazine auf den Punkt zu bringen, schüren O´Mearas lyrische Visionen den Glauben, „dass etwas Gutes aus dieser kollektiven Erfahrung entstehen kann und wir alle in unserem Getrenntsein vereint sind“. Alsdann: Nicht in Schockstarre verharren, mentales Stoßlüften tut Not!
