Wenn Restaurants außer Haus liefern, Theater den Betrieb runterfahren und statt Weihnachtskuscheln Kontaktbeschränkungen angesagt sind, dann ist es Zeit für ein gutes Buch. Denn egal, was der Dezember bringt, lesen kann ja jede*r für sich allein. Die Lektüre ist eine widerstandsfähige Kulturform, die im Corona-Winter für Abwechslung sorgt und uns ganz ohne Ferienflieger in fremde Welten bringt.
Deborah Levy, Der Mann, der alles sah, Kampa, 23 €
Es ist 1988. Saul Adler liebt Jennifer Moreau, eine Kunststudentin, die eine weltberühmte Fotografin werden wird. Jennifer schmeißt den schönen Saul aus ihrem Bett. Der reist wegen Forschungszwecken nach Ostberlin, wo er unbedarft mit Walter Müller und Luna in die Federn steigt. Das wird, ebenso wie seine Liaison mit Moreau, Konsequenzen haben. Als Saul 2016 in einem Londoner Krankenzimmer erwacht, haben sich seine Gegenwart und seine Vergangenheit in kleine Splitter fragmentiert. Was ist wahr? Dem Historiker zerfällt die Erinnerung, was bleibt ist tiefe Liebe und ein berühmter Zebrastreifen auf der Abbey Road.
>> Für experimentierfreudige Leser*innen mit open mind
Karin Kalisa, Bergsalz, Droemer, 20 €
Der Föhn zieht ins Tal und bringt Veränderung. Franzi und ihre verwitweten Nachbarinnen überwinden die Einsamkeit, verraten sich die besten Plätze für Wildkräuter, öffnen ihre Küchen und bekochen sich gegenseitig mit ihren Leibgerichten. Nächstes Ziel ist das ehemaligen Gasthaus, in dem jetzt geflüchtete Familien leben. Die „Offene Küche“ wird gegründet und bei syrischem Milchreis und Kohlrouladen kommen sich alle näher. Über dem Dorf thront währenddessen ein verlassener Hof mit einem Geheimnis aus alten Zeiten. Gefühlsselig und spritzig erzählt Kalisa von der heilenden Kraft der Gemeinschaft.
>> Guten Appetit! Für alle Leser*innen, die an die verbindende Sprache der Kochtöpfe glauben
Eva von Redecker, Revolution für das Leben, S. Fischer, 23 €
Protestieren und engagieren: Für das Klima, gegen Rassismus, für den Wald und gegen Plastik, Massentierhaltung, Autobahnausbau, für Geflüchtete und Frauenrechte. Die Liste ist lang, aber alle Anliegen haben einen Kern: die Rettung von Leben. Und einen Gegner: den Kapitalismus. Von Recker spricht vom Phantombesitz, der unsere moderne Identität bestimmt: unser Schnitzel, unsere Fernreise, unser Wohlstand! Doch wie „leben können, ohne dabei einander und die Welt zu zerstören“? In ihrer Schrift verbindet die Philosophin den intellektuellen Diskurs mit der Graswurzelbewegung, Adorno und dem Biohof.
>> Für intellektuelle Protestler*innen und beherzte Weltveränder*innen
Brett Bennett, Die verschwindende Hälfte, Rowohlt, 20 €
In Mallard, einem Nest in Louisiana – bekannt für seine hellhäutigen Afro-Amerikaner*innen – wachsen die Zwillinge Stella und Desiree auf. Mit 16 Jahren kehren sie Mallard den Rücken zu. Und während Stella „weiß“ wird und ein Leben in Lüge und Verleugnung lebt, heiratet Desiree einenschwarzen Mann und kehrt nach der Trennung von diesem Mann mit ihrer Tochter nach Hause zurück. Das Amerika der 1960er-Jahre ist Ausgangspunkt von Bennetts fesselndem Roman, eine Generationen umspannende Geschichte, die von Rassismus, Identität, Klasse und der Emanzipation von Herkunft, Hautfarbe und Geschlecht handelt. Bennetts Werk steht auf der Longlist für den National Book Award 2020.
>> Aktuelle Pflichtlektüre zum „Black-Lives-Matter“-Movement
Kevin Kwan: Sex&Vanity – Inseln der Eitelkeiten, Kein & Aber, 20 €
Interessiert sich wirklich jemand für das Leben (und Leid) der Superreichen? Falls ja, ist Kwans Milieustudie der Milliardär*innen unterhaltsam. Lucie – eine US-Chinesin – trifft George während einer High-Society-Hochzeit auf Capri und hasst ihn sofort. Fünf Jahre später begegnet sie ihm erneut in New York, wo sie mit ihrem Verlobten ein dekadentes Luxusleben führt. Wer meint, dass soziale Klassenunterschiede bei den Superreichen nicht existieren, wird in Kwans Roman eines Besseren belehrt. Kwans „Crazy Rich“-Trilogie wurden in 35 Sprachen übersetzt und die Times setzte den Autor auf die Liste der 100 einflussreichsten Persönlichkeiten.
>> Für angehende Milliardär*innen und ironische Beobachter*innen
Rebecca Solnit: Unziemliches Verhalten, Hoffmann & Campe, 23 €
Rebecca Solnit, die 2014 den Begriff „mansplaining“ in ihrem Essay, „Wenn Männer mir die Welt erklären“ prägte, erzählt in ihrem neuen Buch von ihrer Entwicklung zur Aktivistin und Feministin. Feinfühlig, klug und verletzlich schreibt sie über Rückschläge, Einsamkeit, wichtige Stationen und wie sie ihre eigene Stimme fand. Zu einer Zeit, als sie eigentlich „schweigen sollte“, während der zweiten Welle des Feminismus, während der Gewalt gegen Frauen und Misogynie im San Francisco der 1980er-Jahre nicht hinterfragt wurden. Solnit hebt brillant ihren „eigenen Befreiungs- und Selbstfindungsprozess von der persönlichen auf eine gesamtgesellschaftliche Ebene“ (dlf.de).
>> Für die politische Denkerin und Feministin
Ibraim X Kendi: How to Be an Antiracist, btb, 22 €
Ein unbequemes und daher umso wichtigeres Buch! Anhand seiner eigenen Geschichte macht der Historiker Ibrahim X. Kendi deutlich, dass wir (er eingeschlossen) entweder rassistisch oder antirassistisch sind: „Es gibt kein bequemes Dazwischen als Nichtrassist.“ Und das entscheiden wir in jedem Moment selber! Es reicht daher nicht, „kein Rassist zu sein, wir müssen alle Antirassisten werden.“ Wie das gelingen kann, dafür liefert Kendi viel Material, indem er ein ganz neues Verständnis von Rassismus entwirft, das zum Nachdenken und hoffentlich Handeln anregt: „Wir sind in unserer Ignoranz so lange Teil des Problems, bis wir Teil der Lösung werden und aktiv antirassistisch handeln.“
>> Eindringlicher Leitfaden für Rassismuskritische, die aktiv etwas verändern möchten
Elif Shafak: Schau mich an, Kein & Aber, 24 €
Was passiert, wenn eine stark übergewichtige Frau und ihr kleinwüchsiger Partner unterwegs sind? Sie werden angestarrt und verspottet. Die Realität derer, die nicht der (Instagram)-Norm entsprechen, ist hart, so auch die der Held*innen des Romans. Shafak erzählt ihre Geschichte von Schönheit und Hässlichkeit ausgehend vom gegenwärtigen Istanbul bis in längst vergangenen Jahrhunderte. Wo einst normabweichende Körper ausgestellt und begafft wurden, denn „Die Welt ist ein Schauspiel. Es geht ums Sehen und Gesehenwerden“. Ausgrenzung, Diskriminierung, Essstörungen und Adipositas sind die Themen, die Shafak verhandelt und „die Erbarmungslosigkeit des Urteils der Anderen als konstituierendes Element menschlicher Gesellschaften“